Kinder und Jugendliche, die die Welt anders wahrnehmen

Frère-Roger-Kinderzentrum fördert seit mehr als zehn Jahren Kinder und Jugendliche aus dem autistischen Spektrum
Der 13-jährige Lukas lebt seit vier Jahren in einer Wohngruppe für Kinder und Jugendliche mit Autismus im Frère-Roger-Kinderzentrum. Foto: KJF Augsburg/Barbara Gandenheimer Fotografie
Der 13-jährige Lukas lebt seit vier Jahren in einer Wohngruppe für Kinder und Jugendliche mit Autismus im Frère-Roger-Kinderzentrum. Foto: KJF Augsburg/Barbara Gandenheimer Fotografie
2. April 2021

„Hier fühle ich mich zuhause“, sagt der 13-jährige Lukas, der seit vier Jahren in einer Wohngruppe für Kinder und Jugendliche mit Autismus im Augsburger Frère-Roger-Kinderzentrum, das zur Katholischen Jugendfürsorge (KJF) Augsburg gehört, lebt. Kinder und Jugendliche aus dem sogenannten autistischen Spektrum, die ins Frère-Roger-Kinderzentrum kommen, haben oft einen langen Weg der Schwierigkeiten und des Scheiterns in Schule, Hort und auch in der eigenen Familie hinter sich. „Das Gefühl, angenommen zu werden so wie sie sind, ist für die meisten total neu und darum auch so wertvoll“, sagt Heilpädagogin Manuela Paulak vom Fachdienst Autismus des Frère-Roger-Kinderzentrums. Denn diese Kinder und Jugendlichen nehmen die Welt anders wahr: Aufgrund besonderer neurologischer Entwicklungen werden Informationen aus der Umwelt im Gehirn eines Autisten anders aufgenommen und verarbeitet. Und diese andere Wahrnehmung hat wiederum Auswirkungen auf die soziale Interaktion, die Kommunikation und das Verhalten.

„Wenn ich mir die Mühe mache, in die Welt des Autismus einzutauchen, dann macht das Verhalten des jeweiligen Kindes oder Jugendlichen immer Sinn. Es sind Handlungen, die sie sich antrainiert haben, um in ihrem Leben zurechtzukommen. Häufig werden diese Verhaltensweisen aber zunächst als provozierend oder anstrengend wahrgenommen“, so Manuela Paulak. Genau diese Herausforderung in der pädagogischen und therapeutischen Arbeit mit diesen Kindern und Jugendlichen fasziniert die Heilpädagogin. „Man braucht immer ein Mehr an Kreativität und Ideen, um herauszufinden, was genau der Einzelne braucht. Die Standard-Pädagogik greift da sehr oft eben nicht. Generell brauchen Kinder und Jugendliche aus dem autistischen Spektrum jede Menge Vorhersehbarkeit, das gibt Verlässlichkeit, das gibt Sicherheit und das ist in unserer Welt der Punkt, an dem sie sehr oft scheitern.“

Um diese Struktur und die täglichen Abläufe deutlich zu machen, gibt es auf den Wohngruppen des Frère-Roger-Kinderzentrums unter anderem Wochenpläne auf einem Whiteboard. „Unsere Jugendlichen müssen wissen, wer was macht, wann mit wem, wo und wie lange“, sagt Heilpädagogin Manuela Paulak. Auf einer Fortbildung hat die Heilpädagogin von einer geplanten App für genau diese Zielgruppe erfahren, die helfen soll den Alltag und tägliche Aufgaben zu strukturieren. Sie nahm Kontakt mit den Entwicklern, Margarita und Michael Fürmann aus Augsburg auf. Denn: „Eine solche App wäre eine große Erleichterung für Kinder und Jugendliche aus dem autistischen Spektrum. Vor allem für das große Ziel, die Jugendlichen in ein selbstständiges Leben zu führen, wäre eine solche App ein gutes Hilfsmittel“, so Manuela Paulak. Der 17-jährige Jonas und der 15-jährige Burghardt aus dem Frère-Roger-Kinderzentrum haben vor Kurzem erste Entwürfe und Funktionen dieser neuen App mit Namen mivao getestet und ihre Ideen und Vorschläge zur Funktionalität beigesteuert (hier finden Sie einen ausführlichen Bericht zu diesem Test der App).

Diese Zusammenarbeit mit den App-Entwicklern ist nur ein Beispiel für die vernetzte Arbeit der KJF Einrichtung, in der sich die Mitarbeitenden bereits seit mehr als zehn Jahren mit der besonderen Wahrnehmung und den damit verbundenen besonderen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Autismus spezialisieren. Daraus ist im Laufe der Jahre ein großer Erfahrungsschatz und ein sehr vernetztes Angebot entstanden. Dazu gehören unter anderem heilpädagogische Tagesstätten, spezielle Wohngruppen, die Frère-Roger-Schule, ein einrichtungseigener Fachdienst, aber auch ambulante und flexible Angebote sowie ein mobiler sonderpädagogischer Dienst.

„Es braucht eine ganz enge Vernetzung sowohl KJF-intern – wie zum Beispiel zur Autismus-Ambulanz an der KJF Klinik Josefinum – als auch zu externen Partnern wie Beratungsstellen, um den jeweiligen Kindern und Jugendlichen helfen zu können“, beschreibt es Diplom-Psychologe Markus Bauer, der als Koordinator Autismus im Frère-Roger-Kinderzentrum genau für diese Vernetzung zuständig ist.

Etwa 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die in den ambulanten, teilstätionären oder stationären Angeboten des Frère-Roger-Kinderzentrums begleitet werden, sind Menschen aus dem autistischen Spektrum. Und Markus Bauer beobachtet eine gestiegene Nachfrage nach genau diesen speziellen Hilfsangeboten. „Die gesellschaftlichen Anforderungen machen es dem Personenkreis zunehmend schwer und sie brauchen vermehrt gezielte Unterstützung.“

Darum empfinden Manuela Paulak, Markus Bauer und auch Lukas und Burghardt den Welt-Autismus-Tag am 2. April als gute Möglichkeit auf das Thema aufmerksam zu machen. Der 15-jährige Burghardt würde sich von Nicht-Autisten wünschen, dass sie nachsichtiger mit ihm und anderen Autisten sind, denn: „Alle sind wir ja unterschiedlich.“ Für seine eigene Zukunft wünscht sich Burghardt, dass er unabhängiger von fremder Unterstützung wird und irgendwann in einer eigenen Wohnung leben kann. Der nächste große Schritt auf dieses Ziel hin ist eine Berufsausbildung zum Metallbauer. Und auch der 13-jährige Lukas hat schon seit vielen Jahren eine sehr konkrete Vorstellung von seiner beruflichen Zukunft: „Ich will Architekt werden.“ (kr)

 

Infos zum Frère-Roger-Kinderzentrum: Das Frère-Roger-Kinderzentrum ist die vielfältigste und größte Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung in Stadt und Landkreis Augsburg. Rund 350 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene leben in den therapeutischen und heilpädagogischen Wohngruppen oder besuchen die zahlreichen Tagesstätten. Darüber hinaus werden rund 200 Familien ambulant betreut. Das Familienzentrum Peter&Paul umfasst eine integrative Kindertagesstätte (Krippe, Kindergarten und Hort) mit rund 200 Plätzen und ist zugleich ein Familienstützpunkt der Stadt Augsburg. Mit Angeboten an Schulen sowie in der offenen Jugendarbeit erreichen die Mitarbeiter tausende weitere Kinder und Jugendliche in der Region. Knapp 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern sich um Kinder, Jugendliche sowie junge Erwachsene mit Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsstörungen und psychischen Störungen. Besonders spezialisiert ist das Frère-Roger-Kinderzentrum in den Bereichen Autismus, Trauma und Bindungsstörungen, sexuelle Grenzverletzungen sowie Essstörungen.

 

Katholische Jugendfürsorge der Diözese Augsburg e.V. (KJF)

Die KJF Augsburg ist einer der größten Anbieter für Gesundheits-, Sozial- und Bildungsdienstleistungen in Bayern. Seit 1911 bietet das Sozialunternehmen vor allem Kindern, Jugendlichen und Familien mit rund 80 Einrichtungen und Diensten Lösungen für die verschiedensten individuellen Bedürfnisse an: in der Kinder- und Jugendhilfe mit Kindertagesstätten, Stationären Wohnformen oder Erziehungs-, Jugend- und Familienberatung; in Berufsbildungs- und Jugendhilfezentren, durch Angebote für Beruf und Arbeit sowie Integrationsunternehmen und -dienste, in der Medizin mit mehreren Kliniken; in verschiedenen Schulen. Darüber hinaus bildet die KJF Augsburg kontinuierlich annähernd 500 Fachkräfte für soziale und medizinische Berufe aus.

Als christlicher Verband katholischer Prägung ist für die KJF und ihre rund 5.500 Mitarbeiter jeder Mensch wertvoll, unabhängig von Herkunft, Status, Religion oder Kulturkreis. Vorstandsvorsitzender ist Markus Mayer, Vorsitzender des Aufsichtsrates Domkapitular Armin Zürn.

Weitere Informationen zur KJF finden Sie unter www.kjf-augsburg.de. Aktuelle Videos gibt es im YouTube-Kanal auf www.youtube.com/kjfaugsburg.